Theater der 12. Klasse:

Der Besuch der alten Dame

Wenn ein Theaterstück schon so oft gespielt wurde – sogar in der Vergangenheit auch nicht erst einmal von Schülerinnen und Schülern unserer Schule – kann man sich in der Tat fragen, ob es noch etwas Neues gibt, das aus dem „Besuch der alten Dame“ herauszuholen ist; einen Aspekt, den man besonders hervorheben müsste, um die Dramatik des bekannten Klassikers aufrechtzuerhalten und das Interesse der Zuschauer nicht zu verlieren.

Inhaltsbeschreibung der 12.-Klässler:

Das ehemals florierende Städtchen Güllen hat immer stärker mit Arbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen.
Jedoch verspricht der angekündigte Besuch einer ehemaligen Bewohnerin, der steinreichen Claire Zachanassian, Besserung und weckt Hoffnungen. Doch der Beweggrund der alten Dame, in ihr Kindheitsdorf zurückzukehren ist ein anderer. Sie kommt, um mit früheren Geschehnissen aufzuräumen. Tief gekränkt in ihrer Jugend, schlug sie sich alleine in der Welt durch und schaffte es schließlich als Milliardärin zurückzukehren. Doch Geld hat seinen Preis. Sowohl für sie, als auch für die Bewohner Güllens und Zachanassians Jugendliebe Alfred Ill, denn sie fordert Vergeltung.
Claire Zachanassian bietet Güllen 1 Milliarde gegen das Leben eines Schuldigen und stellt jeden vor die moralische Frage: Ist es moralisch ein Leben für das Wohlergehen vieler zu opfern, zumal es ein schuldiges ist?

Modernisierung und Moral

Unter der Regie von Irfan Kars hat die 12. Klasse der Freien Georgenschule bewiesen, dass genau das möglich ist: Ihnen ist es gelungen, die „alte Dame“ mit unterschiedlichsten Mitteln der Inszenierung und bravourösem Medieneinsatz ganz schön flott zu machen. Ihre Inszenierung ist allerdings nicht nur ein Versuch, das Stück zu modernisieren. In etlichen Szenen machen sie deutlich, dass was 1956 von Dürrenmatt thematisiert wurde, heute noch mindestens genauso aktuell ist: Reiche und mächtige Personen nehmen es sich heraus, geltende Moralvorstellungen zu missachten und ihre eigenen Regeln zu diktieren. Dass so etwas mittlerweile auch auf medialer Ebene passiert, vor allem über Social Media, deutet die 12. Klasse beispielsweise an, indem sie über den Protagonisten Alfred Ill einen Shitstorm hinwegfegen lassen, sodass dieser nicht mehr ein noch aus weiß und sich schließlich aufgibt. Dabei wird eine moralische Grenze gesprengt: Wenn in den sogenannten Sozialen Medien der Tod eines Menschen gefordert wird und keiner eingreift, setzt das im Grunde eine stillschweigende Toleranz voraus. Der Zuschauer muss unweigerlich innerlich aufschreien oder wenigstens zusammenzucken bei dieser Szene.

Eher amüsant und weniger aufrüttelnd geht es dann zu, wenn die Presse in Güllen auftaucht, um die Berichterstattung zum Besuch der Milliardärin zu begleiten. In Kars‘ Inszenierung wird aus dem Reporter ein Influencer, der mit einem Dauer-Grinsen im Gesicht und ausgerüstet mit Smartphone und Selfie-Stick daherkommt, um „Storys“ und „Likes“ einzusammeln. Da fliegen unzählige Herzchen, Lacher, Smileys, hochgereckte Daumen über die Leinwand im Hintergrund, auf der das gefilmte Interview mit der Familie Ill direkt über Facebook Live übertragen wird. Spannend dabei ist, wie sich die Perspektive auf der Leinwand anders anmutet als das, was der Zuschauer auf der Bühne mitverfolgen kann. Ebenfalls ein Kunstgriff, der zum Nachdenken, zum Perspektivwechsel einladen soll, denn was hier passiert, hat mit seriöser Berichterstattung rein gar nichts mehr zu tun.

Doch das dicke Ende kommt erst noch. Zum Schluss des Besuchs der alten Dame passiert auf der Gemeinderatssitzung das Ungeheuerliche: Die Güllener beschließen, das Angebot von Claire Zachanassian anzunehmen. Im Original ist die Presse anwesend, in der Schüler-Aufführung wird diese Abstimmung live im Fernsehen als „Breaking News“ übertragen. Der Inhalt der Abstimmung? Vorgeblich die Gründung einer Stiftung, um dem Städtchen wieder zu mehr Wohlstand zu verhelfen. Aber: „Hier wird nicht die Wohltätigkeit geübt, sondern eine verdrehte Version von Gerechtigkeit, die jegliche Moral über Bord wirft. Eigentlich richtet man in dieser Szene einen Menschen hin, tut aber so, als engagierte man sich für das Wohl der Gemeinschaft“, begründet Irfan Kars seine Idee, diese Szene als neudeutsch „Fake News“ im TV über die Leinwand laufen zu lassen.

Gekonnter Medieneinsatz

Während der gesamten Aufführung waren zwei Kameras im Einsatz, die das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven aufnahmen. Je nach Bedarf wurden die Bilder oder Szenen auf die große Leinwand im Hintergrund übertragen. Beeindruckend waren die Szenenbilder, in denen sich das Aufgenommene (mehrfach) gedoppelt auf der Leinwand wiederfand wie beispielsweise als die Güllener Bürger den fliehenden Alfred Ill am Bahnhof verabschieden und dadurch an der Flucht hindern. Bewegungslos stehen sie hinter der Leinwand, der Kamerawinkel ist so gewählt, dass die Personenreihe nach oben zwei Mal gedoppelt wird. Die Wirkung: Alle Güllener sind versammelt, scharen sich drohend um Ill, obwohl sie sich doch nicht bewegen. Die Optik verstärkt den Effekt, den Dürrenmatt in seinem Stück bereits angelegt hat. Es ist praktisch Psychoterror, der durch die Art der Bildgebung noch deutlich unterstrichen wird. Die großartige schauspielerische Leistung der Schülerinnen und Schüler rückt dadurch jedoch keineswegs in den Hintergrund; sie konnten das Publikum mit ihrem lebendigen, glaubhaften Spiel und großer Textsicherheit für sich gewinnen.

Die Idee hinter der Medien-Inszenierung begründet Irfan Kars mit den veränderten Sehgewohnheiten der Jugendlichen: „Ich möchte Jugendliche heute fürs Theater begeistern. Also versuche ich, Theater und Film zusammenzubringen. Die Kamera-Einsätze und live-Übertragungen im Stück kamen bei den Schülern sofort gut an und natürlich haben sie dann eigene Ideen einbringen können“.  So gibt es bewusst auch Szenen, in denen man sieht, wie Theater oder auch wie Film eigentlich gemacht wird. Zum Beispiel als die Familie Ill eine Autofahrt mit dem neuen Wagen unternimmt: der Zuschauer auf der Bühne sieht lediglich ein rudimentäres Gestell mit vier Sitzen, das Lenkrad hält der stolze Wagenbesitzer selbst in Händen, die Kamera nimmt die Szene auf. Dahinter, auf der großen Leinwand, kann der Zuschauer die romantische Landschaft (in schwarz-weiß!) bewundern, über die der Wagen mit der scheinbar fröhlichen Familie dahinrollt.  
So vielschichtig ist die ganze Theateraufführung, dem Publikum bieten sich derart viele Eindrücke parallel und in rasanter Abfolge, dass es geradezu erschreckend ist, wie modern, gerade auch wie passend in unsere schnelllebige Zeit, die „alte Dame“ geworden ist.

Text: Julia Bantlin
Bilder: Christian Zacke

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