von Bernd Steinhilber
Theater in Zeiten von Corona? An zwei Abenden Ende Juli präsentierte die 12. Klasse der Reutlinger Waldorfschule im Georgensaal die Bühnenfassung von William Goldings „Herr der Fliegen“. Selbstverständlich war das nicht.
Das Publikum auf Abstand gesetzt, auf Abstand aber auch die 23 Darsteller. Offene Türen für den Luftaustausch und das Posaunensolo am Notausgang erinnerten jeden Moment an die außergewöhnliche Situation, in der sich auch das Publikum befand. Dass man unter solchen Umständen überzeugend Theater spielen kann, verdankt sich dem Einfallsreichtum von Regisseur Irfan Kars und der Beharrlichkeit von Tutorin Elisabeth Bantlin, gewiss aber der Spielfreude der Schülerinnen und Schüler.
Geprobt hatte man schon vor Corona. Das Stück stand, die Rollen waren verteilt, bis der Shutdown dem Spiel ein Ende setzte. Und doch wollte man nicht aufgeben, wenn auch erst mit den verfügten Lockerungen das Projekt, recht spät im Schuljahr zwar, wieder realisierbar erschien. Freilich nicht so, wie man sich das gedacht hatte. Um „Herr der Fliegen“ überhaupt auf die Bühne zu bringen, musste ein Konzept ausgearbeitet werden, das dem Spiel ebenso wie der Sicherheit von Akteuren und Zuschauern gerecht wird.
Für die Schüler hieß das, Strukturen einzuüben, an die man nicht gewohnt war und dabei doch etwas gemeinsam zustande zu bringen. Ein Spiel ohne Nahszenen, ohne Körperkontakt, dafür mit Schals als Mundschutz und konsequentem Nach-Vorne-Sprechen, mit Punkten markierte Abstände, die Darsteller anderthalb Stunden lang auf eng begrenzte Positionen festgelegt. Und doch einwickelte sich ein „spannender Prozess“, sagt Schauspieler Irfan Kars, der die Inszenierung mit einem Hörspiel vergleicht.
Jeder spiele an seinem Platz und versuche aus der festgelegten Position heraus Emotionen zu erzeugen, die sich in der Vorstellung der Zuschauer in bildhafte Szenen verwandeln können: Der Absturz des Flugzeugs, die vom Atomkrieg geretteten Kinder, ihre Robinsonade auf der einsamen Insel, Gruppenbildung, Aggressionen, Blutrausch, Mord, die angeborene Gewaltbereitschaft des Menschen, der Zusammenbruch sozialisierter, regelbasierter Verhaltensweisen.
Dass Goldings „Herr der Fliegen“ thematisch gar nicht so weit von Corona entfernt ist, könnte einen Versuch wert sein, das Thema ins Stück einzubinden. Hier wie dort zeigt sich die Brüchigkeit der Zivilisation, entwickeln sich Auseinandersetzungen um Regeln. Doch Corona bleibt in dem Stück außen vor, bildet aber den gemeinsamen Grund, die außergewöhnliche Situation, in der sich Schauspieler und Publikum treffen. Fast schon mystisch wirkt das Bühnenbild mit seinen auf exakten Abstand fixierten Spielern. In Schwarz gekleidet, vor tiefrotem Hintergrund, ziehen sie ihre Zuschauer in das erschütternde, von den Darstellern überzeugend präsentierte Spiel hinein.
Tutorin Elisabeth Bantlin hatte auf das Zustandekommen der Aufführung massiv hingewirkt. Nachdem schon die Klassenfahrt ausgefallen und die künstlerischen, waldorfrelevanten Unterrichtseinheiten coronabedingt weggefallen waren, sollte wenigstens das Klassenspiel auf die Bühne gestellt werden. „Das Spiel war wichtig für den Zusammenhalt.“ Und wohl auch, weil diese Klasse ein Trauma zu verarbeiten hatte. 2018 waren die Schüler Zeugen des Anschlags auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt und von ihren Lehren in Sicherheit gebracht worden. Normaler Unterricht war danach lange nicht möglich.