von Martin Petzold,
ehemaliger Klassenlehrer der Freien Georgenschule
„Waldorfpädagogik“ als Begriff ist nur eine leere Worthülse, eine hohle Phrase. Wohl können Bücher darüber gelesen, Zeitschriftenartikel studiert werden, doch alles zu Lesende vermag in keiner Weise auszudrücken, was Waldorfpädagogik wirklich ist.
Waldorfschule, Waldorfpädagogik ist stets ein konkret reales Geschehen, ein Werk, das lebt, wirkt und gestaltet, das selten ein festzuschreibender Zustand, sondern immer nur Werden ist, Wandel und Lebendigkeit sind seine Merkmale, nicht beschreibbarer Stillstand und festgezurrte Grundsätze. Waldorfpädagogik ist etwas zutiefst Künstlerisches – eine Kunst, die ihr Richtzeug aus der von Rudolf Steiner geschöpften Anthroposophie bezieht, ohne die Anthroposophie selbst plakativ der Pädagogik sichtbar nach außen anzuheften.
Waldorfpädagogik als soziale Kunst
Menschen treffen aufeinander, Biographien verweben sich auf lange Zeit, man lernt sich gut kennen, man schafft zusammen, stützt einander, ringt miteinander und bildet eine Lerngemeinschaft, die Selbsterziehung, Offenheit, Verstehensbereitschaft und innere wie äußerliche Aktivität fordert. Die ErzieherInnen und Lehrkräfte samt VerwaltungsmitarbeiterInnen bilden zusammen mit den SchülerInnen und Eltern eine Schicksalsgemeinschaft auf Zeit, die von der Kleinkindkrippe bis zum Ende der Schulzeit lange kurzweilige 15 Jahre währen kann. Für die Zukunft der Schüler eine reiche, prägende und wichtige Entwicklungszeit, die eines äußerst ausdifferenzierten, darum auch fragilen, aber umso mehr lebendig sich wandelnden Kunstwerks bedarf, das vorgefasste Prinzipien und verfestigte Sichtweisen nicht als gedeihlich empfinden kann. Wo das Miteinander sich in ein Gegeneinander wandelt, kann dieses soziale Kunstwerk Waldorfpädagogik sich nicht bilden.
Waldorfpädagogik als Erziehungskunst
ErzieherInnen und LehrerInnen sind einbezogen in die sich entwickelnde Laufbahn der Kinder, die auf die Waldorfschule zukommen. Im Bewusstsein der ErzieherInnen und LehrerInnen ist dieses Aufgenommmenwerden in den Schicksalsstrom der Kinder eine ehrfurchtsvoll anzunehmende Aufgabe: die Kinder in all ihrer Befindlichkeit, ihrer Vorgeschichte UND ihren Zukunftsmöglichkeiten gut kennen zu lernen. Deswegen ist angestrebt, einen möglichst moderaten Wechsel der erziehenden Persönlichkeiten anzustreben. Dazu braucht es manchmal Geduld und Beharrlichkeit, weswegen der einheitliche Bildungsgang der Waldorfschule von der Kita bzw. ersten Klasse bis zur Abschlussklasse ein wahrer Segen ist! Um die nötige Phantasie für das Unterrichten und Erziehen zu haben, um Verständnisgrundlagen menschenkundlicher Art zu gewinnen, ist die Anthroposophie eine unverzichtbare Hilfe für WaldorfpädagogInnen; Unterrichtsgegenstand wird die Anthroposophie zu keiner Zeit.
Waldorfpädagogik als lebendiges Wesen
Wer in die Gemeinschaft der Waldorfschule offen und vorbehaltlos eintaucht, der wird von diesem Wesen Waldorfpädagogik umarmt, getragen und warm gehalten. Wer noch unsicher und zweifelvoll den Wirkenskreis der Waldorfschule betritt, dem gegenüber verhält es sich abwartend, vorsichtig und sensibel, langsam auf den Menschen zugehend und ihn für das neu zu gestaltende Kunstwerk „Waldorfpädagogik“ zu gewinnen suchend.
Das lebendige Wesen „Waldorfschule“ ist stets so alt wie die es ausmachenden Kindeswesen: Es springt und singt, es schreit und schafft, es träumt und schaut mit ganzer Seele wie die jüngeren Kinder; es lernt begierig, es schauspielert, abenteuert, streitet, lärmt und ist verschworen wie die älteren Kinder; es denkt, ist lustlos und engagiert zugleich, es ist treu und aufrichtig, diskutierfreudig und wissbegierig, faul und überaktiv in gleichem Maße wie die Jugendlichen.
Das Wesen „Waldorfschule“ feiert gerne mit der ganzen Schulfamilie, es klärt und merkt auf, es lacht freudig über all die auf es zu Kommenden und weint über die Weggehenden. Es bleibt immerwährend jung und vital!
Was ist Waldorfpädagogik? Ein stets aufs Neue zu errichtendes Werk von allen daran Beteiligten, kein vorhandenes Wohlfühlarrangement, sondern ein Werk, errichtet aus Liebe, Engagement, gutem Willen und Verstehen des anderen Wollen, es ist ein freies Werk für eine Freie Schule!